Zum Inhalt springen

Aktuelle Forschung zur VR-Expositionstherapie bei ADHS

Hintergrund: VR-Therapie und ADHS

Virtual Reality Exposure Therapy (VRET) ist ein etabliertes Verfahren in der Angst- und Traumatherapie, bei dem Patienten in virtuellen Umgebungen schrittweise angstauslösenden Reizen ausgesetzt werden. Im Kontext von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist die Evidenzlage für klassische Expositionstherapie bislang dünn. Der Großteil der VR-Forschung zu ADHS fokussiert eher auf kognitives Training, Diagnostik und „Exergaming“ als auf explizite Exposition. Trotzdem gibt es erste Projekte, die VR nutzen, um ADHS-Betroffenen den Umgang mit Ablenkungsreizen beizubringen, was einem Expositionsansatz nahekommt. Diese frühen Arbeiten deuten an, dass VR-gestützte Aufmerksamkeitsübungen in realitätsnahen Szenarien durchaus machbar und vielversprechend sind. Es fehlen aber noch umfangreiche kontrollierte Studien mit Langzeit-Follow-up.

VR-Expositionsansätze bei ADHS: Aktuelle Studien

Ein Beispiel für einen VR-basierten Expositionsansatz ist das “Virtual Reality Attention Management (VRAM)”-Programm der UC Davis. Hier wird versucht, Kinder mit ADHS durch wiederholte Konfrontation mit Alltagsablenkungen in VR unempfindlicher gegen diese Reize zu machen. „Unsere Intervention nutzt eine Virtual-Reality-Umgebung, um den Widerstand gegen häufige Ablenkungen zu trainieren (z. B. das Ticken der Uhr oder das Gerede der Kollegen).” erklärt die Studienbeschreibung (Schweitzer et al., VRAM). Dieses VR-Setting beruht auf Prinzipien von Habituation und soll ADHS-Patienten helfen, störende Geräusche und visuelle Ablenkungen besser auszublenden. 

Eine ähnliche Richtung verfolgt eine aktuelle Pilot-RCT an jungen Erwachsenen (18–25 Jahre) mit ADHS: In dieser Rutgers-Studie (NCT06454604) lernen College-Studierende, sich beim Lernen zu fokussieren, indem sie in einer VR-Umgebung Hausaufgaben erledigen. Es werden drei Gruppen verglichen: VR-Umgebung ohne Feedback, VR mit Feedback zur Konzentration, und eine Kontrollgruppe mit „VR Passthrough“, d.h. reale Umgebung sind durch das Headset sichtbar. Ziel dieses Pilotversuchs ist es, die Auswirkungen eines VR-Programms zu testen, das die Fähigkeit junger Erwachsener mit ADHS verbessert, sich bei der Erledigung von Hausaufgaben und beim Lernen zu konzentrieren. Hierbei werden objektive Leistungsdaten (Tastatur-/Mausaktivität) und subjektive Konzentrationsbewertungen erfasst, um zu sehen, ob VR-gestütztes Lernen die Aufmerksamkeit steigert und von den Nutzern gegenüber herkömmlichem Lernen bevorzugt wird. Beide Projekte laufen noch, zeigen aber, dass VR-Exposition gegenüber ablenkenden Reizen als Therapieelement für ADHS ernsthaft erforscht wird.

Wirksamkeit von VR-Interventionen bei ADHS: Reviews 2024/2025

Auch wenn dedizierte VRET-Studien bei ADHS rar sind, gibt es inzwischen mehrere Übersichtsarbeiten zu VR-Interventionen (allgemeiner Art) bei ADHS. Eine Meta-Analyse von Zheng et al. (2025) fasste 11 RCTs mit 640 Kindern zusammen und fand einen moderaten Effekt von VR-basierten Interventionen auf Aufmerksamkeitsdefizite (Standardized Mean Difference ~ -0.33). Die Autoren betonen jedoch, dass „VR-based interventions show potential in alleviating attention deficits in children with ADHD. However, study heterogeneity and limited long-term data warrant caution“ – mit anderen Worten: Die bisherigen Studienergebnisse sind vielversprechend, aber uneinheitlich, und es fehlen belastbare Langzeitdaten.

Eine weitere systematische Übersichtsarbeit von Yu et al., 2024 untersuchte 9 RCTs (370 Kinder) und bestätigte signifikante Verbesserungen durch VR bei ADHS: „VR technology can improve ADHD children’s attention (Cohen d = –0.68… p<.001) and motor ability (Cohen d = 0.48… p<.001). Gerade die Aufmerksamkeit konnte moderat bis deutlich gesteigert werden (d≈0.6–0.7 entspricht einem mittleren Effekt). Allerdings stuften die Autoren die Qualität dieser Evidenz aufgrund von Studienlimitationen als niedrig ein – für Aufmerksamkeit wie Motorik belegte das GRADE-Raster nur „low quality evidence". Dies untermauert die Einschätzung, dass mehr hochwertige, große Studien nötig sind, bevor VR-Interventionen routinemäßig in der ADHS-Therapie eingesetzt werden können.

Auch abseits reiner Aufmerksamkeitstrainingstherapien zeigt sich Nutzen von VR: Sun et al. (2025) fokussierten auf VR-basiertes körperliches Training (“exergaming”) für Jugendliche mit ADHS. In ihrem Review (6 Studien, n=192) stellten sie fest, dass „VR-gestütztes Training mit moderater bis starker Intensität hat positive Auswirkungen auf mehrere Unterbereiche von EFs (hemmende Kontrolle, Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, Umschalten und Planung) und klinische Symptome bei jungen Menschen mit ADHS. Darüber hinaus erbrachten vollständig immersive und halb-immersive VR-basierte Übungsinterventionen ähnliche Ergebnisse. Mit anderen Worten: Virtuelle Sport- und Bewegungsangebote können exekutive Funktionen wie Inhibition, Arbeitsgedächtnis und kognitive Flexibilität verbessern sowie ADHS-Symptome reduzieren. Interessanterweise waren komplett immersive 3D-VR und einfachere halb-immersive Systeme ähnlich effektiv. Die Autoren schlussfolgern: „VR-gestütztes Training verbessert effektiv die EF und ist für junge Menschen mit ADHS machbar, wobei Vorteile über alle Altersgruppen hinweg und bei Sitzungen über 30 Minuten beobachtet wurden. Sitzungen von mindestens 30 Minuten scheinen also sinnvoll, und die Ansätze sind altersübergreifend gut umsetzbar.

Eine umfassende Scoping Review von Sarai et al. (2025) beleuchtete sowohl VR- als auch Simulator-gestützte Übungen bei ADHS. Sie fand, dass solche Technologien neben kognitiven Funktionen auch die Motivation und Therapieadhärenz der Nutzer steigern. Gleichzeitig gibt es technische und individuelle Anpassungshürden (z.B. begrenzte Personalisierung, technische Ausstattung), die noch gelöst werden müssen Die Autoren plädieren für „teilnehmerzentrierte Ansätze“, die sowohl kognitive als auch motorische Therapieziele integrieren und an die Bedürfnisse der Nutzer angepasst sind. Langzeitdaten fehlen auch hier – viele Studien hatten kurze Nachbeobachtungszeiten, weshalb die Nachhaltigkeit der VR-Effekte unklar bleibt. 

Insgesamt zeichnen die aktuellen Reviews ein Bild, dass VR-Interventionen bei ADHS kurzfristig messbare Verbesserungen in Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen erzielen können, allerdings heterogen in Methode und Qualität sind.

VR in der ADHS-Diagnostik: Ausblick für Exposition

Ganz aktuell kombinieren Forscher immersive Szenarien sogar mit Eyetracking, Bewegungssensorik und EEG, um ADHS objektiv zu erkennen. Wiebe et al. (2024) entwickelten einen VR-Seminarraum, in dem Erwachsene mit und ohne ADHS Aufgaben mit Störreizen bearbeiten, während simultan Blickverhalten, Kopfbewegungen, Hirnaktivität und Verhalten gemessen werden. Ein Machine-Learning-Modell erreichte damit eine beeindruckende Trefferquote von 81 % bei der Unterscheidung von ADHS vs. gesunden Erwachsenen. Diese hochmoderne VR-Diagnostik zeigt, wie reif immersive Technologien inzwischen sind, um Aufmerksamkeitsreaktionen realitätsnah zu erfassen. Solche VR-Setups ließen sich prinzipiell auch therapeutisch nutzen, z.B. um Patienten gezielt abzulenken und ihre Aufmerksamkeitssteuerung zu üben (Exposition gegenüber Störreizen, gefolgt von Feedback).

Fazit und Ausblick

Reine VRET-Protokolle für ADHS stehen noch am Anfang, doch VR-gestützte Ablenkungsexposition und Aufmerksamkeitsübungen gewinnen an Bedeutung. Laufende Studien wie das VRAM-Projekt oder die Rutgers-VR-Studie übertragen klassische Expositionsprinzipien in den ADHS-Kontext. Erste Übersichtsarbeiten zeigen moderate Effekte von VR-Interventionen auf Aufmerksamkeit und exekutive Funktionen, verweisen aber zugleich auf heterogene Befunde, kleine Stichproben und niedrige Evidenzqualität. Größere, methodisch robuste RCTs mit längerer Nachbeobachtung sind daher notwendig, um die Wirksamkeit zu bestätigen.

Für Therapeutinnen und Therapeuten bedeutet dies: VR-Technologie hält Einzug in die ADHS-Behandlung, vorerst vor allem als ergänzendes Training in realitätsnahen Szenarien wie virtuellen Klassenzimmern. Potenziale liegen in graduierter Ablenkungsexposition, hoher Akzeptanz bei jungen Patientinnen und Patienten sowie objektiven Messdaten zur Verlaufskontrolle. Vor einer breiten Anwendung sind jedoch noch Fragen zu Technik, Schulung und standardisierten Protokollen zu klären. Entscheidend wird sein, ob sich die positiven Pilotbefunde in größeren Studien bestätigen. Dann könnte VR bald ein fester Bestandteil multimodaler ADHS-Therapie werden.

Diesen Beitrag teilen
Neue Wege in der Kinder- und Jugendpsychotherapie: VR bei Angststörungen