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Aktueller Stand der Evidenz für VRET in der Psychotherapie

Die gegenwärtige Forschungslage zu Virtual Reality Exposure Therapy (VRET) bei verschiedenen psychischen Störungen zeigt sowohl etablierte Wirksamkeit in bestimmten Bereichen als auch wichtige Forschungslücken in anderen. Basierend auf den neuesten Meta-Analysen, systematischen Reviews und klinischen Studien lässt sich die Evidenz wie folgt zusammenfassen:

Spezifische Phobien

VRET zeigt bei spezifischen Phobien (Höhenangst, Spinnenphobie, Flugangst) eine sehr starke Evidenz 1, 2, 3. Eine 2025 veröffentlichte Meta-Analyse mit 3.182 Teilnehmern bestätigt die signifikante Überlegenheit von VR-Therapie gegenüber konventionellen Interventionen bei Angststörungen (SMD = -0.95, 95%CI [-1.22,-0.69]) 4, 5
Spezifische Befunde:

  • Wirksamkeit: VRET zeigt große Effekte gegenüber Wartelisten-Kontrollen und ist der klassischen in-vivo Exposition gleichwertig
  • Akzeptanz: Deutlich höhere Akzeptanz mit niedrigeren Abbruchraten (3% vs. 27% bei realer Exposition)
  • Selbstgeführte Interventionen: Smartphone-basierte VR-Apps 6 Wochen
  • Dosierung: Effektiv bereits ab einer längeren Sitzung (45-180 Min) oder 8-12 Sessions à 15+ Min 6, 7

Soziale Angststörung und Glossophobie

Die Evidenz für VRET bei sozialer Angststörung ist gut etabliert, jedoch mit Einschränkungen 1, 8, 9:

  • Wirksamkeit: Signifikante Reduktion sozialer Angst, vergleichbar mit traditioneller CBT-Exposition 1, 8
  • Selbstgeführte VR-Programme: Zeigen Wirksamkeit bei sozialer Angst und öffentlichem Sprechen mit niedrigen Drop-out-Raten 10
  • Limitationen: Bei generalisierter sozialer Angststörung war reine VRET weniger effektiv als in-vivo Exposition 9
  • Meta-analytische Befunde: Große Effekte vs. passive Kontrollen (g = 0.82), aber nicht-signifikante Effekte vs. aktive Kontrollen 9

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

VRET bei PTBS zeigt mittlere Effekte mit wichtigen Einschränkungen 11, 12, 13:

  • Primäre Wirksamkeit: Mittlere Effekte für PTSD-Symptome (g ≈ 0.62) und depressive Begleitsymptome (g ≈ 0.50) vs. Wartelisten 1213
  • Vergleich mit aktiven Kontrollen: Keine signifikanten Unterschiede zu anderen aktiven Therapien (g = 0.25)  1213
  • Langzeiteffekte: Anhaltende Verbesserungen nach 3-6 Monaten 13, 14 Populationsbegrenzung: Überwiegend männliche Veteranen untersucht, begrenzte Evidenz für andere Traumatypen  1213

Depression

Die Evidenz für VR-basierte Interventionen bei Depression ist vielversprechend, aber noch begrenzt 15, 16, 17:

  • Wirksamkeit: VR-Interventionen (oft mit CBT kombiniert) zeigen signifikante Symptomreduktion (g = 0.73, 95% CI 0.25-1.21) vs. Kontrollen
  • Bewertung: Noch keine starke Evidenz für VR als unabhängige Erstlinientherapie, eher als ergänzende Option 18
  • Heterogenität: Hohe Variabilität zwischen Studien bezüglich Interventionstyp und -dauer

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)

VR-Interventionen bei ADHS zeigen erste vielversprechende Ergebnisse 19, 20, 21:

  • Wirksamkeit: Meta-Analyse zeigt große Effekte für Auslassungsfehler (SMD = -1.38) und korrekte Treffer (SMD = -1.50)
  • Aufmerksamkeit: Signifikante Verbesserungen bei anhaltender Aufmerksamkeit und Vigilanz-Maßen
  • Limitation: Keine Verbesserungen bei Impulsivitätsresponsen, begrenzte Studienzahl 
  • Aktuelle Forschung: Eine 2025er Meta-Analyse bestätigt moderate Reduktion von Aufmerksamkeitsdefiziten (SMD = -0.33)

Zwangsstörung (OCD)

Bei Zwangsstörungen ist die Evidenz sehr limitiert 22, 23, 24, 25:

  • Kontaminations-OCD: Erste kontrollierte Studien zeigen Wirksamkeit von Virtual Reality Exposure and Response Prevention (VRERP)
  • Mixed Reality: Eine 2024er RCT mit Mixed Reality ERP zeigte keine signifikanten Unterschiede zur Selbsthilfe-ERP
  • Goldstandard: Klassische ERP bleibt First-Line-Behandlung 26, 27, 28
  • Forschungsbedarf: Mangel an soliden VRET-Studien zur OCD-Wirksamkeit 

Substanzgebrauchsstörungen

VR-gestützte Cue-Exposure zeigt wachsende Evidenz 29, 30, 31, 32, 33:

  • Craving-Induktion: VR kann erfolgreich Verlangen bei verschiedenen Substanzen auslösen
  • Alkoholabhängigkeit: VR-Cue-Exposure ist durchführbar und gut toleriert bei Patienten in Langzeitrehabilitation 34
  • Gemischte Therapieergebnisse: Studien zur Cue-Exposure-Therapie mit VR zeigen heterogene Ergebnisse
  • Potenzial: Vielversprechend für Rückfallprävention, aber mehr RCTs erforderlich 35

Essstörungen

VR-Interventionen bei Essstörungen konzentrieren sich primär auf Körperbildstörungen 36, 37, 38, 39:

  • Körperbild-Interventionen: VR-CBT zeigt signifikante Verbesserungen bei Körperbildstörungen und Esssymptomen
  • Cue-Exposure: VR-Umgebungen mit hochkalorischen Nahrungsmitteln lösen bei ED-Patienten stärkere Körperunzufriedenheit aus
  • Erste positive Befunde: Ein-Jahres-Follow-up zeigt anhaltende Verbesserungen

Psychotische Erkrankungen - gameChange Projekt

Das gameChange VR-Projekt zeigt beeindruckende Ergebnisse für agoraphobe Vermeidung bei Psychose 40, 41, 42, 43:

  • Wirksamkeit: 6-wöchige VR-Therapie führte zu moderaten bis großen nachhaltigen Reduktionen in Vermeidung (49%), Distress (19%) und paranoiden Symptomen (41%)
  • Automatisierte Therapie: Selbstgeführte VR-Therapie mit virtuellem Coach in alltäglichen sozialen Situationen
  • Implementierung: Bereits als NHS-Empfehlung für schwere agoraphobe Vermeidung bei Psychose-Patienten

Implementierungsbarrieren und klinische Praxis

Trotz positiver Evidenz bestehen erhebliche Implementierungsbarrieren 45, 46, 47:

Hauptbarrieren:

  • Wissens- und Ausbildungslücken: Mangelnde VR-Kenntnisse bei Therapeuten
  • Finanzielle Barrieren: Hohe Kosten, fehlende Kostenerstattung
  • Technologische Hindernisse: Technische Probleme, Cybersickness, Equipment-Mangel
  • Therapeutische Bedenken: Sorgen um "echte" therapeutische Beziehung

Empfehlungen für die Implementierung:

  • Ausbildung: Umfassende Schulungsprogramme und Hands-on-Training 
  • Technologie-Entwicklung: Benutzerfreundlichere, kostengünstigere Systeme
  • Kontextspezifische Assessments: Standortspezifische Barriere-Bewertungen vor Implementierung

Methodologische Qualität und Zukunftsperspektiven

Eine 2025er Meta-Analyse zu VR-Interventionen bei mentalen Störungen zeigt 48:

  • Studienlimitationen: >50% der Studien mit hohem Bias-Risiko
  • Evidenzqualität: Meist niedrige bis sehr niedrige Sicherheit nach GRADE-Bewertung
  • Forschungsbedarf: Mehr hochwertige RCTs mit längeren Follow-ups erforderlich

Die VR-CORE Framework 49 empfiehlt strukturierte Entwicklungsphasen:

  • VR1: Inhaltsentwicklung mit Patienten-/Therapeuten-Input
  • VR2: Frühe Tests zu Durchführbarkeit und Akzeptanz
  • VR3: Randomisierte kontrollierte Wirksamkeitsstudien

Zusammenfassung der Evidenzstärke

Störungsbild

Evidenzstärke

Empfehlung

Spezifische Phobien

Sehr stark

Klinische Anwendung empfohlen

Soziale Angst

Stark

Wirksame Alternative zu in-vivo Exposition

PTBS

Moderat

Gleichwertig zu anderen aktiven Therapien

Panik/Agoraphobie

Moderat

Vergleichbar mit Standard-CBT

Depression

Begrenzt

Als ergänzende Option vielversprechend

ADHS

Vielversprechend

Mehr Forschung erforderlich

Zwangsstörung

Sehr limitiert

Klassische ERP bleibt Goldstandard

Substanzstörungen

Wachsend

Potenzial für Cue-Exposure-Therapie

Essstörungen

Vielversprechend

Fokus auf Körperbildstörungen

Psychose

Vielversprechend

GameChange zeigt starke Ergebnisse

 

VRET hat sich als evidenzbasierte Behandlung für spezifische Phobien und soziale Angststörungen etabliert, während die Forschung zu anderen Störungsbildern noch im Entwicklungsstadium ist. Die größten Herausforderungen liegen in der praktischen Implementierung und der Notwendigkeit hochwertigerer Forschung mit längeren Follow-up-Perioden.