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VRET in der Suchttherapie

Aktuelle Literaturanalyse

Die Diskussion um Virtual Reality Exposure Therapy (VRET) in der Suchtmedizin gewinnt seit einigen Jahren spürbar an Fahrt. Immer mehr Studien untersuchen, ob virtuelle Umgebungen tatsächlich dabei helfen können, Verlangen zu reduzieren und Rückfällen vorzubeugen. Ein Blick auf die Literatur aus den Jahren 2022 bis 2025 zeigt ein Bild, das gleichermaßen vielversprechend wie komplex ist. Während mehr als vier Fünftel der untersuchten randomisierten kontrollierten Studien mindestens einen positiven Effekt berichten, bleibt die Evidenz in Bezug auf langfristige Abstinenz und Rückfallraten noch uneinheitlich.

Ein besonders umfassendes Review von Glavak-Tkalić et al. (2025) fasste 20 kontrollierte Studien zu Alkohol, Nikotin und illegalen Substanzen zusammen. Die Autor:innen betonen die hohe Erfolgsquote in Bezug auf proximale Ergebnisse wie die Reduktion von Verlangen, weisen aber auch darauf hin, dass klinisch bedeutsame Effekte, wie eine nachhaltige Substanzabstinenz, bislang nur in einem Teil der Studien nachgewiesen werden konnten. VRET wird in der Regel entweder als Expositionstherapie oder in Kombination mit kognitiver Verhaltenstherapie eingesetzt.

Besonders innovativ erscheint die PICOC-Studie von Lehoux et al. (2024), die erstmals eine VRET-Intervention speziell bei Kokainabhängigkeit testete. 54 stationäre Patient:innen durchliefen virtuelle Cue-Expositionssitzungen, ergänzt um eine gedächtnisorientierte kognitive Therapie. Die VR-Umgebungen waren individuell angepasst, sowohl an die Konsumform als auch an den kulturellen Kontext. Dadurch erreichte die Intervention eine ungewöhnlich hohe ökologische Validität. Die Ergebnisse deuten auf eine deutliche Reduktion von Verlangen hin, auch wenn Langzeiteffekte noch abzuwarten sind.

Ein weiteres Review von Taubin et al. (2022) zeigte, dass VR-Interventionen in vielen Fällen den Substanzkonsum oder zumindest das Verlangen verringern konnten. Während Nikotin- und Opiatkonsum besonders positiv beeinflusst wurden, blieb der Effekt bei Alkohol weniger eindeutig. Auffällig ist außerdem, dass VR-Anwendungen auf Stimmungs- und Angstsymptome bislang nur gemischte Resultate liefern.

Gerade im Bereich Alkohol sind jedoch einige neue Entwicklungen zu beobachten. In Barcelona wurde 2024 die ALCO-VR-Studie gestartet, in der Patient:innen mit schwerer Alkoholgebrauchsstörung in multisensorische VR-Expositionen eingebunden wurden, inklusive visueller, haptischer und sogar olfaktorischer Reize. Auch in Deutschland laufen 2025 erste Studien, die VR-Expositionen mit KI kombinieren. Hier passt ein Algorithmus die Schwierigkeit in Echtzeit an und wählt patientenspezifische Trigger, während physiologische Parameter überwacht werden.

Technologisch haben sich die Systeme in den letzten Jahren stark weiterentwickelt. Neben Standard-Headsets wie der Meta Quest 2 oder HTC Vive kommen inzwischen haptische Controller und immersive 360°-Umgebungen zum Einsatz. Ein Beispiel ist das TST-VR-Programm („Transcending Self Therapy“) von Wiese et al., 2025, das in einer randomisierten Studie eine deutlich höhere Behandlungsabschlussrate im Vergleich zur klassischen kognitiven Verhaltenstherapie zeigte.

Trotz dieser Fortschritte bleibt die methodische Vielfalt der Studien eine Herausforderung. Unterschiedliche VR-Modalitäten, kleine Stichprobengrößen und fehlende Langzeitdaten erschweren es, die Ergebnisse zu verallgemeinern. Auch Nebenwirkungen wie Cybersickness werden bislang nur unzureichend untersucht.

Für die Praxis zeichnen sich dennoch einige vielversprechende Anwendungsfelder ab. Besonders robust ist die Evidenz im Bereich Tabakabhängigkeit, wo VR wiederholt das Verlangen reduziert. Auch für Opiatkonsum gibt es erste Hinweise auf eine Wirksamkeit, insbesondere wenn Achtsamkeitselemente integriert werden. Bei Kokain sind die Studien noch jung, aber methodisch sehr innovativ. Alkohol bleibt das Feld mit der größten Unsicherheit – zugleich aber auch mit der größten Forschungsdynamik.

Aus klinischer Sicht scheint VRET derzeit vor allem als Add-on zu bestehenden Verfahren sinnvoll. Patientenspezifische Trigger, multisensorische Expositionen und KI-gestützte Anpassungen eröffnen neue Möglichkeiten, die klassische Therapie zu ergänzen. Entscheidend wird sein, in Zukunft einheitliche Protokolle zu entwickeln und die langfristige Wirksamkeit in groß angelegten Studien zu prüfen.

Die Bilanz der aktuellen Literatur lautet: VRET ist kein Allheilmittel, aber ein ernstzunehmender Baustein in der modernen Suchttherapie. Mit technologischen Innovationen, stärkerer Standardisierung und solideren Langzeitdaten könnte die Methode in den kommenden Jahren den Sprung von der experimentellen Nische in die klinische Routine schaffen und damit die Behandlung von Substanzgebrauchsstörungen nachhaltig verändern.

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VRET bei Zwangsstörung
Aktuelle Forschung und klinische Evidenz